von Michael Sonntag (Samstag, 19.12.2020 - 10:00 Uhr)
Nach acht Jahren Entwicklungszeit folgt der Aufschlag in der Realität: Für einen Konsolen-Test zu Cyberpunk 2077 ist es entweder viel zu spät oder im Hinblick auf die kommenden Updates sogar noch viel zu früh. Ein vorläufiges Urteil stand trotzdem noch aus und mit Sonys radikaler Maßnahme scheint der richtige Moment dafür gekommen zu sein. Und wir sagen gleich - kein Urteil ist uns dieses Jahr schwerer gefallen.
Eine ergreifende Geschichte, eine "Open World"-Oase, ein Rollenspiel-Wunder, das alles erlaubt: Cyberpunk 2077 sollte eine Gaming-Offenbarung werden und dieses deprimierende Corona-Jahr für alle Fans auf einer guten Note enden lassen. Seit seiner Ankündigung leckte sich die gesamte Gamingwelt die Finger nach diesem Spiel, das die geistigen Phantasiemöglichkeiten des Original-Pen&Papers quasi auf die digitale Ebene bringen sollte. Kann man sich eigentlich ein besseres Videospiel vorstellen? Und könnte der Erwartungsdruck eigentlich noch größer ausfallen?
Auch wenn Cyberpunk 2077 erschienen ist, haben die Fans es immer noch nicht erhalten - zumindest die Konsolenspieler nicht. Nach vielen Beschwerden über die schlechte technische Performance machte es Sony mit der Entfernung aus dem PlayStation Store endgültig deutlich: Cyberpunk 2077 ist nicht fertig. Auch wir erhielten unsere Konsolenexemplare erst einen Tag vor Release und wussten ab dem Punkt bereits, dass wir nichts mehr zur Kaufberatung der Spieler beitragen können. Was wir machen können, ist unser Urteil abzugeben, was Cyberpunk 2077 gerade ist. Nicht mehr, nicht weniger.
Wir können nicht sagen, ob das Spiel, das alles sein wollte, letztendlich gut geworden ist. Nur, welches Potenzial und welche Schwächen wir jetzt bereits erkennen. Unterschiedliche Konzepte haben unterschiedliche Schwerpunkte - und es kann passieren, dass sie sich gegenseitig unterstützen oder sabotieren. Aber am Ende bleibt dieser Test genauso unfertig wie sein Spiel, weshalb bestimmte Abschnitte Fortsetzungen benötigen.
Noch nie hat folgender Satz mehr gestimmt: Man kann es nicht jedem (Gamer) rechtmachen und vielleicht sollte man es auch nicht. Übrigens: Als wir dieses Video gedreht haben, wussten wir nicht, was uns erwartet. Jetzt ist es die Werbung auf ein Spiel, das noch nicht existiert. Aber von dem wir hoffen, dass es irgendwann kommen wird.
Immersion - das Gefühl, wirklich dort zu sein, soll die größte Stärke, das Revolutionäre an Cyberpunk 2077 ausmachen. Statt nur einem Einstieg erhält der Spieler gleich drei verschiedene, zwischen denen er wählen kann: Nomade, Streetkid, Corporate. Keine bloßen Sequenzen, von Anfang bis Ende erleben wir Night City aus unserer eigenen Ego-Perspektive und können unseren Charakter formen. Night City und das wahre Ausmaß bleibt am Anfang verborgen und klein, tritt es nach und nach in den Vordergrund und erschlägt uns dann mit voller Wucht. Ein grandioser Einstieg, selbst wenn er zu kurz ist, um wirklich etwas erzählt zu haben. Alle Wege führen zum selben Söldnerleben.
Das Cyberpunk-Genre in Cyberpunk 2077 ist überfordernd aufgrund seiner Authentizität, genauso wie die wegweisenden Neuromancer-Romane von William Gibson. Begriffe, Personen, Hintergründe, Techniken - in diese Welt müssen wir uns erst eingraben, das intensive Erleben ist dann umso belohnender. Der Sprung vom Papier ins Digitale scheitert dabei nicht an der Informationsdichte, sondern ein wenig an der Organisation des Interface - Oft wird der Spieler erschlagen von den Nachrichten, Anrufen und Einblendungen. Fast so, als ob der Entwickler Angst gehabt hätte, dass sich der Spieler in einer freien Minute gelangweilt hätte.
Missionen sind Geschichten - das hat kein Entwickler jemals so gut wie CD Projekt Red verstanden und viele sind daran gescheitert, weil sie die Geheimzutat vergessen haben. In Cyberpunk 2077 bringt es der Witcher-Macher auf eine neue Höchstform. Zu keiner Zeit setzt die Erzählung aus, zur keiner Zeit hören die Figuren auf, interessante Persönlichkeiten zu sein, eine Mission kann bei einem gewöhnlichen Imbissbudenessen beginnen, auf der Fahrt wird das Gangsterleben hinterfragt, dann ästelt sich die Mission in mehrere Wege auf, endet, woraufhin die Konsequenzen besprochen und gleichzeitig weitere Stränge angestoßen werden.
Der Kampf um den Unsterblichkeits-Chip bildet zwar den roten Faden der Geschichte von Cyberpunk 2077, aber im Grunde geht es mehr darum, in Night City zu leben. Das wird vor allem dadurch deutlich, weil nicht minutiös Action-Passagen über den Bildschirm laufen - was nicht unbedingt jedem Ballerliebhaber gefallen wird, vor allem wenn der langsame Anfang des Spiels mehr als zwei Stunden umfasst. Die Zeit mit Herumblödeln totschlagen, einer Freundin einen Gefallen zu tun, in einer ruhigen Minute in den Spiegel zu schauen und vor Wut das Glas zu zerschlagen - der Spieler und die Personen leben in Night City und ihr Handeln hinterlässt Spuren auf ihnen. Das kauft man jeder Dialogzeile, Mimik und Gestik ab.
Die Nacht, in der Johnny Silverhand in das Leben des Spielers tritt, gehört zu den Szenen, die wir so schnell nicht vergessen werden. Es wird nicht bei einer "eindrucksvollen" Szene belassen, sondern nimmt die Veränderung des gesamten Lebens durch einen Schicksalsschlag in seiner Gänze auf. Das ist schmerzhaft, unangenehm und verstörend. Auch wenn die Dialogoptionen öfters mehr Freiheit suggerieren als wirklich drinsteckt.
Beim Gameplay setzt dann die erste Ernüchterung ein. Schnell wird deutlich: Cyberpunk 2077 ist auf die cleveren Spielweisen wie Hacken und Schleichen ausgelegt, der brachiale Spielstil ist dagegen nicht blutig und wild, sondern einfach tollpatschig und stumpf. Ob die Charaktere aufeinander schießen oder einschlagen, es ist immer dieselbe lineare Schießbude, die systematisch abläuft und zu kuriosen Szenen führt, wenn ein Gegner solange Schüsse schlucken muss, bis der leere Energiebalken den armen Kerl endlich sterben lässt. Immersion und Kampf-Mathematik vertragen sich nicht immer.
Blickt man dann auf die gigantischen Levelbäume und Anpassungsmöglichkeiten - Attribute, Skillpunkte, Cyberwares - und Gegenstände, Waffen, Rüstungswerte, Modifikationen, dann bekommt das Rollenspielerherz fast einen Aussetzer. Ob Stealth-Samurai, Bazooka-Koloss oder Hacker im Schatten - Dutzende Vorstellungen von verschiedenen Charakteren bauen sich auf, aber nach den ersten Missionen tritt der berechtigte Zweifel auf, ob hier nicht eine Unverhältnismäßigkeit vorliegt.
Gibt es nicht 100 Möglichkeiten für fünf Anwendungssituationen? Wie viel davon brauche ich wirklich, wie viele signifikante Spielstile verbergen sich wirklich darunter und wie viel ist nur da, um die Auswahl zu erhöhen? Mit fünf Spielstilen wäre die Vorbereitung wesentlich leichter. Anstatt deshalb blind zu investieren, ohne zu wissen, was auf einen zukommt und was hilft, ist der Spieler genötigt, die Ressourcen und Erfahrungen anzusammeln, um sie erst dann in der jeweiligen Situatution schnell einzusetzen.
Es braucht Zeit, das System zu verstehen. Die Frage ist nur, wann sich der Spieler damit beschäftigen will. Innerhalb der Missionen bremst es den Fluss aus und alternativ bleibt uns nur übrig, die Leute mit einer Ausrede zu vertrösten, im Sinne des Rollenspiels sich zu Hause einzuschließen und minutenlang durch die Tabellen zu scrollen. Gleiches gilt für die Sichtung des Berges an Objekten, den wir einsammeln. Viel Freiheit im Spiel, aber wenig Kontrolle. Der Wiederspielwert ist wahrscheinlich enorm, auch wenn noch nicht abzusehen ist, für wie viele Durchläufe dieses System wirklich Material bietet.
- Fortsetzung folgt ...
Wow, einfach nur wow! Night City ist der wahrgewordene Cyberpunk-Traum zwischen göttlichem Hightech und gnadenloser Armut. Die Konflikte der Parteien sind an jeder Ecke spürbar, jeder Fleck sprießt nur vor Details aus verschiedenen Zeitaltern und Kulturen. Welt oder Kulisse - das hängt tatsächlich stark davon ab, was die Bevölkerung für einen Tag hat. So sehr die Lebenssimulation in der Geschichte funktioniert, manchmal lässt die Glaubwürdigkeit der Welt zu wünschen übrig, wenn die Straßen komplett leer sind oder von Statisten bevölkert wird, die den Gesamteindruck durch ihre steife Art herunterziehen.
- Fortsetzung folgt ...
Um alle angesprochenen Aspekte oder Tendenzen möglichst objektiv zu bewerten, haben wir den Einfluss der technischen Performance auf diese herausgelassen, um sie hier noch einmal gesondert zu besprechen. Während wir in unseren News auf die politischen und produktionstechnischen Hintergründe des katastrophalen Releases von Cyberpunk 2077 eingehen, bewerten wir hier nur das Produkt als solches.
Der fehlerhafte Zustand geht weit hinaus über das Auftreten von Bugs und Glitches, die bei Spielen wie The Elder Scrolls 5: Skyrim noch als charmant und verschmerzbar durchgegangen wären. Im Falle von Cyberpunk 2077 traten beim Testen unter anderem Framerate-Einbrüche, dauerhaft bestehende Einblendungen, Spiel-Abstürze und massive Steuerungsbugs auf. Um ein Beispiel zu geben: Wenn wir ein Auto verließen, konnten wir manchmal das Spiel nur noch mit einem eingeschränkten Steuerungsset bedienen, das heißt, unbeabsichtigtes Zoomen funktionierte, aber weder Sprinten noch Antwortmöglichkeiten auswählen. Nur ein Neuladen konnte den Fehler zurücksetzen.
Cyberpunk 2077 ist auf diese Weise nicht nur unspielbar, seine mangelhafte technische Performance killt zudem seine zentrale Stärke, die Immersion. Immer werden wir aus dem Spiel rausgerissen, immer wieder merken wir, dass wir mehr mit dem Spiel als mit seinen Gegnern kämpfen. Cyberpunk 2077 ist zwar erschienen, aber spielen können wir es immer noch nicht. Es entzieht sich weiterhin unseren Händen. Entwickler CD Projekt Red versprach, die Performance mit mehreren Updates bis Februar 2021 zu fixen. Dann werden wir das Spiel erneut einem Test unterziehen und erst dann werden wir bewerten können, wie gut es ist. Aber der Traum der Gaming-Offenbarung ist auf den Konsolen erstmal ausgeträumt. Und das Vertrauen ist zerstört.
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Ich gebe es zu: Ich bin enttäuscht - und werde die Hoffnung dennoch nicht aufgeben, weil ich Cyberpunk 2077 selbst in seiner unfertigen Version seine Stärken anmerken konnte. Zwei Worte hätten gereicht, um die Erwartungen für die PS4-Version nicht so unsanft aufschlagen zu lassen: Early Access. Oder drei: Release nächstes Jahr. All das wäre besser gewesen als die jetzige Situation.
(Durchatmen)
Ich freue mich auf Februar 2021, wenn man sich wiedersieht, Cyberpunk 2077 und ich. Zwar endete dieses Gaming-Jahr auf einer schlechten Note, aber vielleicht fängt das nächste dann mit einer kolossal guten an. Johnny, du alter Halunke, wir sehen uns wieder.
spieletipps meint: Cyberpunk schloss dieses Jahr katastrophal, aber könnte das nächste wundervoll einleiten.
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