von Michael Krüger (Donnerstag, 06.10.2016 - 09:03 Uhr)
Männer mit dem Umfang von Baumstämmen, Kettensägen und zerplatzende Körper - Gears ist nichts für Weicheier. Doch etwas Farbe hat noch niemandem geschadet, oder?
Mit Gears of War veröffentlichte Microsoft 2006 einen Shooter aus der Schultersicht, der für reichlich Wirbel sorgte. Übertrieben klobige Charaktere, harte Sprüche und Kämpfe voller Blut und Gedärme - ein Konzentrat testosterongeschwängerter Kriegsszenen und zugleich ein Startschuss für die HD-Ära der Konsolen-Spiele. Nur wenige Spiele bereicherten die Spielgattung Action in dem Maß, in dem es diese Reihe vermochte. Obwohl oder gerade weil die Übertreibung hier zum Stilmittel wird. Hart, zu hart für Deutschland. Das Spiel wurde hierzulande indiziert, jedoch steht es seit Juli 2016 nach einer erneuten Prüfung nicht mehr auf dem Index.
Eigentlich sollte aber nach Gears of War 3 Schluss sein. So zumindest der Plan von Entwickler Epic Games. Mit ein bisschen Überredungskunst wurde mit Gears of War - Judgement dann aber zumindest ein Kompromiss gefunden und somit gab es anstelle einer Fortsetzung einen Vorläufer. Doch so einfach wollte sich Microsoft nicht von der erfolgreichen Marke trennen und erwarb die Lizenz zum Spiel. Aus den Black Tusk Studios wurde The Coalition und Gears-Miterfinder Rod Fergusson konnte für die kreative Leitung gewonnen werden. Eine solide Basis für ein ambitioniertes Vorhaben: Mit Gears of War 4 soll nun eine neue Saga beginnen.
Natürlich ist es immer schwierig, wenn sich ein neues Studio an einer bereits etablierten Marke versucht. Da ist es mit Sicherheit hilfreich, dass ein Veteran der Serie mit an Bord ist. Dennoch ist viel Fingerspitzengefühl gefragt. Während einerseits die Essenz der Reihe erhalten wird, muss andererseits der Durst nach Neuem bedient werden. Nur dann findet das Spiel sowohl bei hargesottenen Anhängern als auch Neulingen Anklang.
Gears of War 4 geht hierfür einen interessanten Weg. Während große Teile der Spielmechanik nahezu unangetastet bleiben, bekommt die Aufmachung einen neuen Anstrich. Die Darsteller sind jünger und die Spielwelt bei weitem bunter als ihr es aus den Vorgängern kennt. So sehr die Serie seit jeher mit den Möglichkeiten der Übertreibung experimentiert, so sehr begibt sich Gears of War 4 auf eine Gradwaderung zwischen Nostalgie und Pop.
Solltet ihr nicht mehr genau in Erinnerung haben, wie sich die Handlung im Verlauf der Serie entwickelt hat, dürfte euch der Anfang von Gears of War 4 erfreuen. Hier bekommt ihr in drei spielbaren Sequenzen zu sehen, wie Menschen gegen Menschen, Locust und Leuchtende kämpfen. In diesem Zusammenhang lernt ihr nicht nur Gegner der Vergangenheit, sondern auch gleich die grundlegenden Spielmechaniken kennen. Diese Rückblicke sind Teil einer Rede von Jinn, der neuen Anführerin der KOR.
25 Jahre nach den Ereignissen in Gears of War 3 spricht Jinn auf einer Gedenkfeier über eben jene Szenen. Zur gleichen Zeit trifft sich der neue Protagonist JD Fenix mit seinen Freunden vor einer KOR-Siedlung. JD ist der Sohn des berühmten Marcus Fenix, der bekanntesten Figur der ersten drei Teile. JD und sein Freund Del sind ehemalige KOR-Soldaten, doch zählen sich nun zu den sogenannten Nonkons - einer Art Wiederstand, der sich außerhalb der KOR-Siedlungen in kleinen Dörfern sammelt.
Kait, die Tochter einer Stammesführerin und ihr Onkel Oscar sind ebenfalls mit von der Partie. Der Plan der vier Rebellen: Einen Fabrikator aus einer Siedlung stehlen und in ihr Dorf bringen. Natürlich läuft nicht alles wie erwartet und schon bald findet ihr euch in einem heftigen Kampf gegen Roboter der KOR-Armee wieder, bis ihr schließlich ein paar Schicksalsschläge später einem ganz neuen Feind gegenübersteht. Der Schwarm scheint eine Art neue Form der Locust zu sein, die sich langsam vom Inneren des Planeten nach oben gräbt. Spätestens jetzt seid ihr in Gears of War 4 angekommen. Vor euch und den Helden liegt eine lange Nacht voll spannender Momente und einschneidender Erlebnisse.
Auch wenn die Hauptgeschichte von Gears of War 4 in einer einzigen Nacht stattfindet, bietet sie eine Menge Abwechslung. Nicht nur die Rückblicke zu Beginn des Spiels sind hierfür verantwortlich. Auch die Abläufe der Ereignisse und der Wechsel von Begleitern sorgen für ein kurzweiliges Erlebnis. Die Charaktere selbst sind dabei nicht ganz so ruppig und rau, wie ihr es aus den Vorgängern gewohnt seid. JD, Kait und Del verfügen über eine eher jugendliche Art, was sich auch in Albernheiten äußert, die sie untereinander austauschen. Dennoch zeigt die gesamte Aufstellung den unverkennlichen Charme, der Gears of War ausmacht.
Gleiches gilt auch für die Szenarien, in denen ihr euch bewegt. Es dauert keine Minute bis ihr zweifelsfrei wisst, dass es sich um Gears of War handelt. Die typische Architektur, hüfthohe Deckungen und diese gewisse Härte zeigen sich deutlich - wenn auch um einiges farbenfroher als zuvor. So kann es schon einmal vorkommen, dass eine Szene wirkt als wäre sie aus Uncharted oder World of Warcraft. Das klingt vielleicht befremdlich, passt aber erstaunlich gut. Immerhin sorgen sowohl das Wetter als auch unterirdisch stattfindende Szenen für reichlich Dunkelheit in längeren Passagen der Kampagne.
Die Gratwanderung zwischen frischen Impressionen und gewohnten Bildern gelingt von Anfang bis Ende. Voraussetzung hierfür ist allerdings eine gewisse Toleranz eurerseits. Haltet ihr an den dunklen Grau- und Brauntönen der Vorgänger fest, könnten euch zumindest die Szenen bei Tag etwas missfallen. Steht ihr Neuem offen gegenüber, wird euch das frische Gears-Gewand begeistern. Denn ihr bewegt euch die gesamte Kampagne über von einem atemberaubenden Szenario in das nächste. Trotz gelegentlicher Farbtupfer verliert das Spiel dabei nicht an Härte oder Brutalität.
Immerhin ist die Serie hierfür bekannt. Auch Gears of War 4 steht für Testosteron, Gedärme und martialische Gefechte. Dabei geht die Übertreibung bis an die Grenze zur Lächerlichkeit und verharrt stilsicher kurz davor. Genau dieses Spiel um das Ausreizen von Grenzen, bei dem Unterarme fast den Umfang eines Oberschenkels haben, ist die Stärke der Serie. Daran hält auch Gears of War 4 fest. Wann immer ihr denkt, dass ihr gerade einen filmreifen Moment erlebt habt, folgt schon der nächste.
Eine wichtige Zutat hierfür sind die unzähligen Details, die eine glaubhafte Spielwelt vermitteln. Zu keiner Zeit habt ihr das Gefühl, dass ihr gerade in einem Gebiet seid, das die Spielzeit strecken soll. Zudem sind alle Übergänge zwischen den Szenarien flüssig und nachvollziehbar. Umso lobenswerter ist die Tatsache, dass die Kampagne so kurzweilig ist. Den Gestaltern der Karten ist es gelungen, die Spielmechaniken auszureizen und gleichzeitig eindrucksvolle Bilder entstehen zu lassen - ein Qualitätsmerkmal, dass ebenfalls bezeichnend für die Serie ist.
Fast genauso wichtig für ein gelungenes Spielerlebnis ist die Vertonung. Auch hier werdet ihr als Anhänger der Serie nicht enttäuscht. Die Waffen dokumentieren erfolgreiche Abschüsse mit gewohnt martialischen Klängen und Hinrichtungen sowie Tötungen aus kurzer Distanz klingen nach explodierenden Fleischbrocken. Das mag nicht jedermanns Sache sein, doch darf es in einem Spiel dieser Reihe keinesfalls fehlen. Da überhört ihr schon einmal die ebenfalls gelungene Hintergrundmusik, die sämtliche Gefechte dank klassischer Orchesterbegleitung stilvoll untermalt oder besiegte Wellen als erledigt kommentiert.
Selbst die deutsche Vertonung, die oft bei Spielern für Unmut sorgt, ist bei Gears of War 4 vortrefflich. Ein paar der Stimmen kennt ihr bereits aus der Serie oder auch aus anderen großen Produktionen, wie beispielsweise die deutsche Synchronstimme der Figur Nick Miller aus der Fernsehserie New Girl. Diese kommt bei Del zum Einsatz und passt wunderbar. Alle Charaktere sind glaubwürdig und jeder auf seine Art charmant. Allen voran natürlich Ikone Marcus Fenix. Dieser hat nach all den Jahren nicht an Charisma verloren und macht selbst auf seine alten Tage noch eine gute Figur.
Bis zu diesem Punkt steht Gears of War 4 seinen Vorgängern in nichts nach. Die Präsentation mag bunter sein, doch die Stimmung bleibt erhalten und die dichte Atmosphäre, die viele von euch lieben ist auch hier allgegenwärtig. Doch das alles nützt nichts, wenn die Spielmechaniken zu stark von den Vorgängern abweichen. Innovation in allen Ehren, doch der Kern muss passen, soll das Spiel dem großen Namen gerecht werden. Glücklicherweise bekommt ihr bei Gears of War 4 genau das, was ihr erwartet. Ihr sprintet geduckt von Deckung zu Deckung, feuert Salven aus überdimensionierten Gewehren und legt die Innereien euer Gegner dank des Kettensägen-Aufsatzes eures Lancers frei. Spätestens wenn ihr euch das erste Mal durch eine Horde Schwarm-Larven schneidet, wächst euch ein dickes Büschel Brusthaar - ob ihr wollt oder nicht.
Der Wechsel aus Möglichkeiten funktioniert auch heute noch super. Nester werden mit Granaten ausgelöscht, auf mittlere Distanz kommen Gewehre zum Einsatz und hin und wieder lässt ein Feind eine etwas größere Wumme fallen. Was sich über die Jahre hinweg konzentriert hat, bleibt in Gears of War 4 fast völlig unverändert. Euch erwartet also genau das, was ihr erwartet, anstatt experimenteller Neuerungen. Für etwas Abwechslung sorgt stattdessen die Auswahl der Gegner. Diese verlangen je nach Variation eine bestimmte Herangehensweise. Dass erstmals auch Roboter gegen euch kämpfen, funktioniert dabei erstaunlich gut.
Neben serientypischen Waffen wie dem Lancer, dem Gnasher oder dem Hammerburst, bekommt ihr auch neue Spielsachen. Mithilfe des Retrolancers zum Beispiel spießt ihr eure Gegner im Nahkampf auf ein riesiges Bajonett. Dank der Buzzkill feuert ihr rotierende Sägeblätter über das Schlachtfeld und lasst die Köpfe euer Gegner rollen. Diese und andere neue Waffen ergänzen die bekannte Auswahl sinnvoll. Auch neue Hinrichtungen passen sich nahtlos in die von Blutfontänen überzogenen Kriegsszenen ein.
Doch bei all der schönen Worte gibt es auch ein paar Kritikpunkte. So schön die Spielwelt auch ist und so gut die Präsentation gelungen ist, so altbacken wirken die Abläufe hier und da. Zwar sind die Gefechte an sich wie schon erwähnt gut gelungen. Doch die Muster verraten häufig, was als nächstes geschieht. So transparent sollten Spielmechaniken heute einfach nicht mehr sein. Kommt ihr beispielsweise in ein neues Gebiet, ist euch innerhalb eines Augenblicks klar, ob Gegner auftauchen und aus welcher Richtung. Seht ihr ein Geschütz oder eine große Tür wisst ihr spätestens ab der Hälfte des Spiels genau, was euch gleich erwartet.
Diese Vorhersehbarkeit entsteht auf Kosten der Spieldynamik. Auch wenn Gears of War 4 eure Kinnlade ein ums andere Mal fallen lässt und mit überraschenden Ereignissen aufwartet, sackt es streckenweise in betagte Abläufe zurück. Das stört nicht unbedingt, fällt allerdings immer wieder auf und reißt euch etwas aus dem Erlebnis. Angesichts der dichten Atmosphäre und der abwechslungsreichen Bilder ist dieser Umstand in jedem Fall zu verkraften, sollte allerdings nicht unerwähnt bleiben.
Ebenso der Umstand, dass die Bildwiederholungsrate während der Kampagne auf 30 Bilder pro Sekunde begrenzt ist. Auch ohne den direkten Vergleich zu Horde- und Mehrspielermodus, die auf 60 Bilder kommen, fällt dieser Unterschied auf. Seid ihr erst einmal eine Weile in die Handlung abgetaucht, könnt ihr es zwar ignorieren, dennoch wäre eine höhere Bildwiederholungsrate schön. Immerhin ist die Qualität der Darstellung ansonsten recht hoch. Volumetrisches Licht und der bereits erwähnte hohe Detailgrad zeigen einen deutlichen Sprung vom Vorgänger Gears of War - Judgment und damit auch von Xbox 360 zu Xbox One.
Ist die Serie nicht gerade für das Kettensägengewehr Lancer, brachiale Kämpfe oder stilvolle Übertreibung berühmt, dann für den Spielmodus Horde. Dieser begründete als kooperative Zugabe von Gears of War 2006 eine ganz eigene Spielgattung. Runde um Runde stürmen Wellen von Gegnern ein begrenztes Areal, in dem ihr gemeinsam mit anderen Spielern ums Überleben kämpft. Über die Jahre entwickelte sich dieser Modus weiter und ist nun in Gears of War 4 als Horde 3.0 verfügbar.
Der Fabrikator stellt dabei eine der größeren Neuerungen dar. Dieser mobile 3D-Drucker fertigt für euch Waffen, Geschütze, Zäune und andere Hilfsmittel. Ist ein Kamerad gefallen, könnt ihr seine KOR-Marke aufsammeln und ihn damit am Fabrikator wiederbeleben. Damit ihr die Zauberkiste benutzen könnt, benötigt ihr allerdings Energie. Diese sammelt ihr von erledigten Gegnern und bringt sie anschließend zum Fabrikator. Da dieser verschoben werden kann, bestimmt ihr auf jeder Karte selbst, wo ihr euch sammeln möchtet.
Die Idee klingt nicht nur in der Theorie gut, sie wirkt sich wirklich positiv auf das Spielgeschehen aus. Da euch alle Karten aus dem Mehrspieler-Modus für Horde 3.0 zur Verfügung stehen, wird es lange dauern bis ihr auf jedem Terrain die ideal Taktik gefunden habt. Mit bis zu fünf Spielern und fünf Klassen ist auch auf Seiten der Team-Zusammensetzung einiges möglich. Jede Klasse kann zudem hochgestuft werden und so irgendwann bis zu fünf Fähigkeiten einsetzen, die ebenfalls verbessert werden können.
Das neue Kartensystem passt sich zwischen Mehrspieler-Modus und Horde 3.0 ein. Habt ihr genug Spielwährung erhalten, kauft ihr euch neue Pakete. In diesen sind farblich nach Seltenheit aufgeschlüsselte Karten enthalten, die euch neue Kostüme, Waffenfarben oder Spiel-Boni bringen. Auch Kopfgelder sind enthalten, die euch durch Erledigen einer Vorgabe große Mengen an Erfahrungspuntken und Credits bringen.
Spielt ihr gerne an der Erscheinung eures Charakters herum, dann kommt ihr hier auf eure Kosten. Für jeden Spiel-Modus und jede Fraktion entscheidet ihr nicht nur über das Aussehen eures Helden, sondern auch über die Optik jeder einzelnen Waffe. Habt ihr Karten doppelt, zerstört ihr sie und baut euch aus dem daraus entstandenen Schrott fehlende Exemplare. Diese Mechanik bedient also sowohl den Sammeltrieb als auch den Spaß an kreativen Anpassungen.
Hier erfinden die Entwickler nichts neu. Dank der großen Auswahl und vor allem einer gelungenen Präsentation geht das Karten-System dennoch über nettes Beiwerk hinaus und verbindet die Spiel-Modi clever miteinander. Einer jedoch bleibt außen vor. Habt ihr darauf gehofft, von dieser neuen Spielmechanik auch im Solo-Spiel Gebrauch machen zu können, werdet ihr enttäuscht sein. Bis auf vier Schwierigkeitsgrade gibt es hier nämlich keine Anpassungsmöglichkeiten - schade.
Ein wesentlicher Bestandteil bisheriger Gears-Spiele ist mit Sicherheit auch der Mehrspieler-Modus. Mit Gears of War 4 wird dieser nicht nur umfangreicher, sondern zeigt auch deutliche Ambitionen in Richtung eSports. Hier sollen sowohl neugierige Anfänger, passionierte Profis als auch Zuschauer auf ihre Kosten kommen. Ähnlich wie in anderen kompetitiven Spielen steigt ihr bei Ranglistenspielen in den Stufen Bronze, Silber, Gold, Onyx und Diamant auf.
Damit Spieler nicht voneinander getrennt werden, sollen auch künftige Karten für jeden spielbar sein, allerdings nur in öffentlichen Spielen. Möchtet ihr neue Gelände auch in privaten Spielen nutzen, muss zumindest der Gastgeber das entsprechende Paket oder den Season-Pass besitzen.
Auf den Schlachtfeldern erwartet euch die gewohnte Action, die ihr aus den Vorgängern kennt: Eine Mischung aus einerseits beengten Gefechten, andererseits weitläufigen Fronten bei denen die Deckung im Vordergrund steht. Für reichlich Abwechslung sorgen zudem neue Spiel-Modi wie beispielsweise Wettrüsten, bei dem das Arsenal der Mannschaften alle drei Eliminierungen wechselt und so zunehmend größere Schäden auf beiden Seiten zulässt.
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