von Daniel Kirschey (Donnerstag, 10.11.2016 - 14:24 Uhr)
Warum immer nur Gutes tun? Böse zu sein kann in Spielen auch Spaß machen. Doch Tyranny geht unter die Haut. Manchmal ist böse einfach nur böse.
Das Rollenspiel Tyranny ist unangenehm. Wer von Entwickler Obsidian Entertainment ein Pillars of Eternity 2 erwartet, wird geschockt sein. Denn der Entwickler wirft euch in eine bittere Rollenspiel-Welt. Bei einigen Spielen schreiben Redakteure, dass ihr "in medias res" in die Geschichte hineingeworfen werdet. Schon lange hat dieser Ausdruck nicht mehr so ein Beispiel beschert bekommen wie mit Tyranny. Als Spielfigur bekommt ihr nämlich kein unbeschriebenes Blatt, dass ihr dann gewissenhaft und sorgsam ausfüllt.
Ihr seid ein Schicksalsbinder, Richter und Henker in einer Person. Doch statt wie Judge Dredd in einer Zukunftswelt herumzuballern, steckt ihr im Äquivalent des Bronzezeitalters fest. Eure Aufgabe ist es, die Gesetze von Oberherr Kyros umzusetzen. Und Kyros ist - wie der Titel des Spiels schon vermuten lässt - kein weiser und netter König.
Was also unterscheidet das Rollenspiel Tyranny von anderen "üblichen" Rollenspielen? Es ist die Welt und die vielen Charaktere, die nicht in das übliche Rollenspiel-Schema passen. Es ist der Umstand, dass euch Obsidian Entertainment den typischen und archaischen Heldenaufstieg verwehrt und euch stattdessen eine Rolle aufzwängt. Die könnt ihr ausfüllen oder euch dagegen wehren. Mit unterschieldichen Konsequenzen.
In den meisten Rollenspielen steigt die Spielfigur vom unbekannten Abenteurer zum mächtigen Helden auf. Sobald ihr ein Held seid, sehen alle in euch den Retter der Welt. Darunter geht es nicht. Dauernd wollen irgendwelche Könige oder andere Autoritätspersonen Hilfe in Anspruch nehmen oder eine wichtige Aufgabe erfüllt bekommen. Geralt aus den Witcher-Spielen ist hier eine angenehme Ausnahme.
Zwar wird auch er von Königen genervt, aber im Gegensatz zu den meisten Helden ist er wirklich genervt und will eigentlich nur in Ruhe seine eigenen Angelegenheiten voranbringen. Er ist schon eine Person, ein Charakter. In Tyranny bekommt ihr zwar keine schon bestehende Spielfigur mit eigenem Charakter in die Hand, aber der Held des Spiels ist kein Unbekannter.
Die große Schlacht ist geschlagen. Kyros hat gesiegt. Euer Charakter muss sich nicht mehr beweisen. Er ist schon jemand. Jemand Großes und Mächtiges. Diesen Einstieg beiten wenige Rollenspiele.
Während der Charaktererschaffung entscheidet sich also auch, wie die Spielfigur - nennen wir den Helden zur Vereinfachung schlicht Æthelstan - also, wie Æthelstan am Feldzug Kyros' teilnahm.
Der Schicksalsbinder Æthelstan hat Kyros geholfen das Land "die Stufen" einzunehmen. Das Heer des strengen Tyrannen besteht zum größten Teil aus den Geschmähten und dem Scharlachrotem Chor, angeführt von Graven Ashe und Nerats Stimmen.
Je nachdem, wie ihr die Entscheidungen fällt - ob ihr eher Graven oder eher Nerat während des Feldzuges unterstützt - verändert sich das Spiel. Schon früh werdet ihr mitbekommen, dass die beiden Heerteile nicht besonders gut harmonieren. Genauer gesagt, hauen die sich ständig gegenseitig die Köppe ein und Æthelstan muss schlichten, Recht sprechen und zurechtweisen.
Das bringt euch Loyalität bei den Gruppierungen der Welt ein und verändert auch während des Zockens ständig das Spiel. Ist Æthelstan ein gern gesehener Gast bei den Geschmähten, bekommt er auch mehr Aufträge und Hilfe von ihnen.
Um die Loyalität zu erwerben, müsst ihr die Werte der jeweiligen Gruppen beachten. Im Grunde sind die Geschmähten auf Disziplin versessene Elitekämpfer, die Recht und Ordnung am höchsten halten; doch ein Menschenleben bedeutet ihnen nichts.
Das Scharlachrote Chor setzt sich aus den besiegten Völkern zusammen und ist ein chaotischer Haufen, der Moral als einen Furz aus Blei ansieht und dem - Überraschung - ein Menschenleben genauso wenig wert ist.
Würde man die Gruppen in "Advanced Dungeons and Dragons"-Gesinnungen übersetzen, spräche man wohl von Rechtschaffen Böse und Chaotisch Böse. Wer die netten Soldaten sucht, die nicht ständig Menschen foltern, töten, pfählen und was alles noch … ja, der sucht sich ein anderes Spiel.
Und genau deshalb ist Tyranny unangenehm. Nicht das Spiel an sich, nicht die Spielmechanik, sondern die Entscheidungen sind es, die einen sich winden lassen. Statt den obligatorischen “guten” oder “bösen” Pfad einzuschlagen, ist alles ziemlich grau und vornehmlich böse. Soll der Händler, der auf einem Schlachtfeld das Kriegswerkzeug der Geschmähten einsammelt, getötet oder doch eher versklavt werden?
Das sind Entscheidungen, die einem nicht gerade leicht von der Hand gehen. Natürlich könnt ihr auch den Rebellen spielen und immer versuchen gut zu sein. Doch das bringt euch keinen Respekt ein. Bei keiner der beiden Heerteile. Und wenn ihr in diesem Rollenspiel die euch zugewiesene Rolle spielen wollt, müsst ihr mehr oder minder böse sein. Schließlich seid ihr nicht als vertrauenswürdiger Onkel ohne einer Fliege etwas zu Leide zu tun durch den Krieg gekommen und zu einem Schicksalsbinder geworden.
Unter den vielen Entscheidungen und Loyalitäten stecken eine Menge Zahlen und Werte. Æthelstan kann beispielsweise hervorragend mit einem Bogen umgehen und auch den einen oder anderen Eiszauber wirken. Aber in Dialogen, wenn es an die Entscheidungen geht, helfen ihm vor allem Werte wie Wissen, List und Loyalität.
Wer seine Mitmenschen gerne anlügt, braucht einen hohen Wert in Wissen oder List. Wer sein Gegenüber nicht anlügen kann, da die Werte zu klein sind, wartet also einfach auf einen Level-Aufstieg und haut in List oder Wissen ein paar Punkte hinein, oder?
Nö. Statt wie Pillars of Eternity sich an Baldur's Gate und Icewind Dale zu orientieren, geht Tyranny einen vollkommenen anderen Weg; eher Richtung The Elder Scrolls und Ultima. Denn durch die Aktion an sich, wertet ihr eure Spielfigur auf.
Will Æthelstan listig sein, muss er ganz viele listige Dinge tun. Die Übung macht also den Meister. Wie im richtigen Leben. So schießt Æthelstan auch besonders gerne Pfeile, damit sein Wert für Kurzbögen in die Höhe schnellt.
Deshalb wählt ihr zu anfangs auch nicht eine Klasse aus. Ihr erkiest Waffen, in denen ihr trainiert wurdet. Hat Æthelstan dann im Spiel genügend herumgelogen, Fallen entdeckt oder Artefakte begutachtet, steigt der Wert Wissen und beschert ihm dadurch einen Level-Aufstieg.
Jetzt erst dürft ihr Punkte verteilen. Aber nur in den Grundattributen wie Stärke, Gewandheit, Entschlossenheit und Ähnlichem. Außerdem erhaltet ihr einen Talentpunkt, den ihr in einen der sechs Talentbäume stecken dürft. Dadurch bekommt ihr neue Fähigkeiten.
Zauber schaltet ihr nicht immer einfach frei, sondern erlernt sie. Sie bestehen aus einer sogenannten Sigill und der Art der Anwendung. Sigill, das ist beispielsweise entweder Feuer, Eis oder Illusion – also Magieschulen. Die Anwendung entscheidet, ob ihr etwa das Feuer durch Berührung an den Gegner anbringt, oder ihm einen Feuerstrahl ins Gesicht semmelt.
Zeit genug, um zu überlegen, wie ihr im Kampf vorgeht, habt ihr immer. Zwar laufen die Kämpfe in Echtzeit ab, doch wie schon in Pillars of Eternity könnt ihr das Spiel durch einen einfachen Druck auf die Leertaste pausieren. Jeder Angriff dauert seine Zeit. Ihr greift nicht aktiv an, sondern gebt eurem Helden und euren drei Truppen-Mitgliedern befehle.
Ein Kampfbeispiel: Æthelstan agiert als Bogenschütze aus der Entfernung, während ihr zum Beispiel Lyra direkt an den Feind schickt. Pause. Æthelstan kann nun einen Herzschuss abfeuern, der besonders viel Schaden anrichtet. Sobald das Spiel weiterläuft, beobachtet ihr das Ergebnis. So könnt ihr auf jede Veränderung im Kampf reagieren und es spielt sich ausgesprochen taktisch.
Tyranny baut auf der Grafikroutine von Pillars of Eternity auf. Doch statt der detailreichen europäischen Mittelalterwelt, wirkt Tyranny etwas comichafter.
Die Grafik ist stilisierter. Das Interessante dabei: Durch die wenigen Details wirkt die Grafik schäfer und kontrastreicher. Denn wenn ihr zoomt, können die fehlenden Details auch nicht gröber verpixeln.
Musikalisch nímmt das Spiel den Faden der dunkleren und bitteren Welt auf. Statt – wie etwa in Skyrim – auf heroische und epische Klänge und Chöre zu setzen, ist der Musikeinsatz sparsamer. Und schon während des Ladens fällt auf, dass die Stücke getragener und düsterer daherkommen. Ein wenig erinnern einige Lieder an die melancholischen, ja, fast schon deprimierenden Weisen, die während des Heumstreifens von Geralt in Velen aus The Witcher 3 erklingen.
Übrigens: An Tyranny werdet ihr nicht monatelang sitzen. Nach gut 25 Stunden ist der Spaß vorbei. Das ist für dieses Spiel aber eine gute Nachricht. Denn, Tyranny fordert euch gerade dazu heraus, es noch ein oder gar zweimal durchzuspielen. Die Wege durch das Spiel sind so unterschiedlich und mit all den Konsequenzen, die euch erwarten auch interessant genug, noch einmal in die Welt abzutauchen.
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