von Sergej Jurtaev (Dienstag, 13.11.2018 - 15:00 Uhr)
Auf ein „richtiges“ Pokémon-Abenteuer für den großen HD-Bildschirm warten Fans seit Ewigkeiten. Jetzt ist es endlich da! Zumindest teilweise. Pokémon – Let's Go Pikachu & Evoli sind nämlich streng genommen Spin-offs, die Pokémon Go mit der Hauptreihe kreuzen. Ist das Experiment geglückt?
Am 16. November 2018 stellen sich sicher viele von euch diese Frage: Pikachu oder Evoli? Die beiden knuffigen Taschenmonster bekommen ihre eigene Edition spendiert und fungieren – abhängig von euerer Wahl – als treuer Begleiter, den ihr unter anderem streicheln oder füttern könnt.
Es ist ärgerlich, dass Nintendo an dem Editionskonzept festhält und viele Fans mindestens darüber nachdenken werden, beide Spiele zu kaufen. Dass der Ansatz antiquiert ist, zeigt insbesondere Pokémon – Let's Go gut auf: Inhaltlich sind die Unterschiede nämlich rar. Lediglich eine Handvoll exklusiver Taschenmonster könntet ihr vermissen, die wie gewohnt zum Tauschen mit Freunden animieren sollen. Durch die Konnektivität zu Pokémon Go ist das aber obsolet, da ihr euch fehlende Monster ganz leicht selbst beschaffen könnt. Pikachu und Evoli in einem Spiel wäre die kundenfreundliche Alternative gewesen – schade.
Pokémon – Let's Go ist ein waschechtes Remake von Pokémon – Gelbe Edition und hievt die in Kindertagen so geliebte Kanto-Region erfolgreich ins HD-Zeitalter. Die Grafik ist hübsch, charmant und dank des hochauflösenden Überzugs ein Wohlfühlpaket für die Augen. Verdammt noch mal, sieht das gut aus ... im Vergleich zur Gelben Edition.
Wenn ihr einen Blick auf Pokémon – Sonne und Mond werft, werdet ihr feststellen, dass der Umstieg von Nintendo 3DS auf Nintendo Switch nicht den erhofften grafischen Quantensprung zur Folge hatte. Die Alola-Region konnte mit einer natürlich wirkenden Spielwelt punkten, die dank wechselnder Kameraperspektiven hier und da mehr Tiefe bekam. In Pokémon – Let's Go müsst ihr hingegen mit einer relativ starren Umwelt vorliebnehmen, die dem biederen „Block-Stil“ treu bleibt.
Die fehlende Dynamik lässt sich am besten in den Hintergründen der Kampf beziehungsweise Fangbildschirme erkennen. Sie wirken zweidimensional, verfügen über schwache Texturen und irritieren mit einem verwaschenen Himmel mitsamt starrer Wolken.
Auf der anderen Seite ist die Spielwelt so lebendig wie noch nie! Das liegt daran, dass es keine Zufallskämpfe gibt und die Taschenmonster erstmals frei in der Umgebung herumlaufen, -schwimmen und -fliegen. Sie reagieren sogar auf euch und greifen an oder fliehen, wenn ihr in ihr Habitat eindringt. Das ist zweifelsfrei eine der besten Neuerungen, die als Standard in der Pokémon-Serie etabliert werden sollte.
Dass sich Pokémon – Let's Go grafisch so wenig traut, wird zumindest den Älteren unter euch herzlichst egal sein. Der Maßstab ist die archaische Gelbe Edition, sodass ihr euch neugierig fragen werdet, wie die M.S. Anne, die Zinnoberinsel oder die Begegnungen mit den Legendären Pokémon umgesetzt wurden. Ein Höhepunkt sind da zum Beispiel die tragischen Ereignisse im Lavandia-Turm. Es macht unglaublich viel Spaß, die Kanto-Region noch einmal zu erleben.
Die Nostalgie gehört zum Spielspaß dazu, verklärt das Spiel aber keineswegs. Die Gelbe Edition ist als Grundlage heutzutage immer noch gut. Die Spielwelt sowie das Missionsdesign sind kohärent und der Spielfluss fühlt sich angenehm an. Anders als zuletzt in Sonne und Mond müsst ihr euch nicht durch ein zähes Intro und ellenlange Dialoge arbeiten – binnen weniger Minuten geht das Abenteuer los!
Pokémon – Let's Go ist zwar ein akkurates Remake, nichtsdestotrotz wurden einige Spielabschnitte verändert oder entfernt. Da ihr auf ausgewählten Taschenmonstern reiten könnt und Pikachu beziehungsweise Evoli alle VMs (Fliegen, Surfer etc.) beherrschen, benötigt ihr zum Beispiel kein Fahrrad mehr. Auch die Safari-Zone wurde entfernt und in der Spielhalle von Prismania City sind die Automaten tabu für euch – schade!
Die größte Neuerung ist das von Pokémon Go adaptierte System zum Fangen der Pokémon. Diese Ankündigung sorgte im Vorfeld für viel Diskussionsstoff, mit dem Ergebnis, dass Euphorie und Skepsis bei einigen Fans die Plätze tauschten.
Wenn ihr auf ein Pokémon trefft, müsst ihr es nicht bekämpfen. Ihr greift sofort zu den Pokébällen und versucht das Monster im richtigen Moment zu erwischen – dazu schwingt ihr den Joy-Con. Starke Pokémon sind dabei ständig in Bewegung oder wehren geworfene Bälle ab. Mit Beeren könnt ihr wilde Pokémon beruhigen und eure Fangchancen erhöhen. Kurzum: Es funktioniert im Kern so wie in Pokémon Go – nur weniger intuitiv.
„Funktionieren“ ist ein gutes Stichwort, denn die Bewegungssteuerung will leider nicht immer so, wie ihr wollt. Der Wurf geradeaus klappt zwar wunderbar, aber wenn ihr zur Seite werfen wollt, nimmt der Ball nicht selten eine kuriose Flugkurve an. Im Tutorial werdet ihr diesbezüglich nie aufgeklärt.
Das ständige (unpräzise) Schwingen kann nerven, aber ihr müsst euch darauf einlassen, um mit Pokémon – Let's Go Spaß zu haben. Für das Fangen der Pokémon gibt es nämlich Erfahrungspunkte für euer Team. Stellt ihr euch besonders gut an, gibt es Boni wie beispielsweise Beeren oder Bonbons, die Statuswerte erhöhen.
Da eure Pokémon-Box ständig überquillt, müsst ihr regelmäßig Taschenmonster an Professor Eich verschicken – auch dafür gibt es Bonbons. Die gesammelten Bonbons benutzt ihr daraufhin, um die Werte eurer Pokémon zu erhöhen. Dank dieses Systems haben wilde Pokémon einen großen Stellenwert im Spiel – eine willkommene Abwechslung. Leider ist das Verschicken etwas umständlich, da eine Option zum sofortigen Versand nach dem Fang fehlt.
In der Hauptreihe sind wilde Pokémon meist unerwünschte Unterbrechungen, die sofort weggeklickt werden. Wer leveln möchte, konzentriert sich dort auf Trainerkämpfe. In Pokémon – Let's Go ist es umgekehrt: Ihr könnt sehr schnell trainieren, wenn ihr wilde Pokémon fangt. Selbst ein Taubsi kann euch gute EP bringen, wenn ihr einen technisch sauberen Wurf landet. Das sorgt für den bereits erwähnten angenehmen Spielfluss, denn „grinden“ müsst ihr selten.
Dass die Bewegungssteuerung etwas unpräzise ist, ist ärgerlich. Problematisch wird es aber dann, wenn ihr merkt, dass die restliche Steuerung um dieses Feature herum gebaut wurde. Gespielt wird deshalb mit einem einzigen Joy-Con. Zwei Joy-Cons als auch der Pro-Controller werden nicht unterstützt.
Die Rechtshänder unter euch müssen dementsprechend die Spielfigur mit dem rechten Daumen steuern. Selbstredend werden Aktions- und Abbruchtasten ebenfalls mit dem rechten Daumen bedient. Alles in allem sehr gewöhnungsbedürftig und letztlich auch unverständlich, wenn ihr Pokémon – Let's Go im Handheld-Modus ausprobiert.
Hier dürft ihr eine klassische Steuerung genießen – links laufen, rechts interagieren. Im Fangbildschirm werft ihr Pokébälle auf Knopfdruck und das Zielen funktioniert entweder mithilfe des linken Analogsticks oder der bevorzugten Gyro-Steuerung (ähnlich wie ihn The Legend of Zelda - Breath of the Wild oder Splatoon 2). Warum es diese Steuerungsoption nicht für das Spielen am Fernseher gibt, weiß wohl nur Nintendo selbst.
Pokémon – Let's Go richtet sich vor allem an Kinder und Neueinsteiger, die zum Beispiel viel Pokémon Go spielen. Es soll eine breite Masse an neuen Spielern abgeholt werden, sodass die Einstiegshürde sehr niedrig ist. Produzent Junichi Masuda betonte in Interviews immer wieder, dass man das Spieltempo erhöhen wollte. Schnelle Erfolgerlebnisse sollen in Pokémon – Let's Go dafür sorgen, dass die Spieler motiviert bleiben.
Erfahrene Pokémon-Kenner bleiben hier ganz klar auf der Strecke. Mindestens die erste Spielhälfte ist unfassbar leicht. Das liegt auch an eurem mächtigen Begleiter. Abgesehen von den hohen Werten, kann ein Attacken-Tutor eurem Pikachu/Evoli starke Attacken beibringen. So erlernt euer Evoli bereits in Azuria City eine Feuer-, Wasser- und Elektroattacke, die 90 Schaden anrichten.
Damit mäht ihr jeden Gegner mit nur einem Angriff nieder. Im letzten Drittel pendelt sich der Schwierigkeitsgrad aber ein. Nach dem Durchspielen erscheinen zudem neue, starke Gegner, mit denen ihr euch messen könnt. Diese sogenannten „Meistertrainer“ haben sich auf ein Pokémon spezialisiert und warten im ganzen Land verstreut auf euch.
Die Kämpfe funktionieren so, wie ihr es von der Hauptreihe gewohnt seid – große Änderungen gibt es nicht. Veteranen werden sich vielleicht darüber freuen, dass bei der Attackenauswahl nicht angezeigt wird, welche Angriffe gegen den Gegner effektiv sind und welche nicht. Dadurch müsst ihr euch wieder auf eure Pokémon-Kenntnisse verlassen.
Um das Spiel simpel zu halten, wurden noch weitere Elemente entfernt. So haben Pokémon zum Beispiel keine Eigenschaften mehr und können auch keine Items tragen. Strategisch fehlen euch damit einige Alternativen im Kampf. Dass die Pokémon-Zucht darüber hinaus keine Wissenschaft mehr ist, könnt ihr euch bestimmt denken. Nichtsdestotrotz unterscheiden sich alle Pokémon in ihrem Potenzial. Sobald ihr die entsprechende Funktion freigeschaltet habt, könnt ihr euch die Potenziale eurer Monster anzeigen lassen und euch die besten raussuchen. Jetzt braucht ihr nur noch jede Menge Bonbons.
Pokémon – Let's Go besitzt einen Zweitspieler-Modus, den ihr jederzeit ganz leicht starten könnt. Dazu muss sich euer Mitspieler lediglich einen Joy-Con schnappen und diesen kurz schütteln. Daraufhin poppt eine zweite Spielfigur auf dem Bildschirm auf. Jetzt kann euer Freund in der Spielwelt herumlaufen. Fertig.
Es gibt aber Einschränkungen: Euer Mitspieler kann weder Items einsammeln, noch mit NPCs reden, noch Kämpfe starten. Verlässt die Spielfigur den Bildschirmrand, zoomt die Kamera nicht heraus, sodass sich der Zweitspieler immer nahe bei euch aufhalten muss. Dafür lässt sich höchstens das jüngere Geschwisterchen begeistern, das unbedingt mitspielen möchte.
Spannender wird es, wenn das Geschehen in den Fangmodus wechselt. Hier könnt ihr gemeinsam Taschenmonster mit Pokébällen bewerfen. Passt das Timing ab, um eure Würfe zu fusionieren – das erhöht die Wahrscheinlichkeit, ein Pokémon zu fangen.
Kämpfe könnt ihr ebenfalls gemeinsam bestreiten. Alternative Doppelkämpfe wären klasse gewesen. Stattdessen bekommt ihr unfaire „2 gegen 1“-Kämpfe, die das auch so schon leichte Spiel noch leichter machen.
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