von Michael Sonntag (aktualisiert am Mittwoch, 19.05.2021 - 09:16 Uhr)
„NEIN, du brichst mir jetzt nicht auseinander!“, schreie ich, als ich mein Gefährt mit allem Möglichen befeuere, um der schwarzen Explosion im Hintergrund zu entkommen. „Du hältst jetzt durch! Nur noch ein paar Meter!“ Es fackelt und raucht aus allen Rohren.
Ihr alle habt es wahrscheinlich: Dieses eine Spiel, das euch aus ganz unterschiedlichen Gründen am Herzen liegt. Vielleicht liegt das gar nicht nur am Spiel selbst, sondern auch an den Umständen, wie ihr es gezockt habt: Eurer Kindheit oder Jugend. Die Menschen, mit denen ihr es gespielt habt ... An dieser Stelle wollen wir euch von unseren ganz subjektiven und persönlichen Spiel-Geschichten erzählen.
Hier findet ihr alle bisher in der Reihe erschienenen Artikel.
Indie-Spiele sind so eine Sache. Es ist falsch, sie partout wegen ihren technischen Einschränkungen zu verteufeln, genauso wie es falsch ist, sie automatisch zu den heimlichen Qualitätspatronen der Videospiellandschaft zu erklären. Fakt ist, sie können genauso wie "Triple A"-Spiele beides sein: Totaler Rotz oder großartige Schmuckstücke. Nur wie sich häufiger zeigt, werdet ihr im Indie-Bereich mit einer höheren Wahrscheinlichkeit auf Verstandeserweiterungen treffen als im Mainstream-Bereich, wo eher Unterhaltung zu finden ist.
Wieso ich das erzähle: FAR - Lone Sails, um das es hier gehen soll, bleibt bis zum Ende schwierig einzuschätzen - was es tun will oder von mir möchte. Wie so viele Indie-Spiele eifert es dem fruchtbaren Limbo-Spielprinzip nach - was trotzdem keine Erfolgsgarantie ist - da Limbo eben nicht nur aus Atmosphäre, Rätseln und einfachem "Nach Rechts"-Laufen besteht. Zum Glück lässt euch FAR irgendwann woanders in eine eigene Richtung laufen.
Es gibt keine Geschichte in FAR, zumal es ohnehin nicht mehr viel zu erzählen gibt. Die Welt ist am Ende, die Hauptfigur kniet am Grab des Vaters und jetzt bleibt ihr nur noch übrig, eine Reise anzutreten - mit der Okomotive, die hinter dem Haus steht. Was ist eine Okomotive? Ja, das habe ich mich auch gefragt, als ich sie entdeckt habe und einen Moment lang für den merkwürdigsten Wohnwagen aller Zeiten gehalten habe.
Von außen sieht sie aus wie ein gigantischer roter Salzstreuer mit zwei Rädern, innen hat sie allerhand Knöpfe, Hebel und Aufhängungen. Es hat fünf Minuten gebraucht, bis ich verstanden habe, wie sie gestartet wird - was nicht bedeutet, dass ich herausgefunden habe, wofür die anderen Gerätschaften gut sind, die ich ursprünglich für die Startvorrichtungen gehalten habe. Der Motor der Okomotive wandelt alles in Treibstoff um, was man hineinwirft - das kann auch der eigene Briefkasten sein, die leere Welt erlaubt es einem nicht, besonders wählerisch zu sein.
Und los geht's mit Blitzgeschwindigkeit? Von wegen ... Alle paar Meter muss ich anhalten, aussteigen, Schrott einsammeln und damit diese Gurke "betanken", um wieder ein paar Meter voranzukommen. Ist das wirklich alles, was ich in diesem Spiel machen kann? Aus Frust lasse ich die Okomotive einfach stehen und teste aus, ob ich nicht schneller zu Fuß reisen kann.
Mich erwartet kein simples Nein. Was ich stattdessen nach ein paar Metern finde, ist pure Ohnmacht. Mit jeder Sekunde da draußen in der staubigen Wüste beginne ich mich immer kleiner und schwächer zu fühlen. Diese Welt ist schlicht und ergreifend zu riesig, als dass ich wirklich spürbaren Weg zurücklegen kann. Obwohl ich nicht glaube, dass es in diesem Spiel möglich ist, habe ich Angst zu erfrieren und mich zu verlaufen.
Sofort kehre ich um, hebe ein Bündel Schrott auf und kicke drei andere mit dem Fuß vor mich her, bis ich nach Minuten endlich die Okomotive wieder erreiche. Drinnen werfe ich den Schrott in den Ofen und fahre sofort los. Ja, es ist nicht das schnellste Gefährt, aber es ist das einzige, das ich habe. Als ich durch ein Gewitter fahre, merke ich zudem, dass mein erster Eindruck, die Okomotive für einen Wohnwagen gehalten zu haben, gar nicht so abwegig ist.
Abseits ihrer Zerbrechlichkeit tut sie alles, um einen heimatlichen Charakter zu vermitteln. Sie hat ein Bett, spendet Licht und ich kann in ihr wie daheim interessante Gegenstände verstauen, die ich unterwegs finde. Spätestens, als ich ein funktionierendes Radio berge und einschalte, beginne ich mich bei den Klavierklängen in der Einöde in dieses zweirädrige Haus richtig zu verlieben. Egal, welche Hindernisse uns in den Weg kommen, ich möchte gemeinsam mit der Okomotive das Ziel meiner Reise erreichen, wo auch immer das ist.
Wir haben einen schweren Hagelsturm überlebt, einen Brand und eine Energienot überstanden, sind aus einem Sumpf und einer Fabrik entkommen - aber als ich diesen Vulkan im Hintergrund ausbrechen sehe, glaube ich das Ende schon zu kennen.
Während die Welt immer schwärzer wird, hole ich alles an Geschwindigkeit aus dieser Maschine raus, werfe alles in den Motor, auch das Radio, nur um irgendwie wegzukommen. „FAHR!“, rufe ich und ignoriere, dass die Okomotive schon auseinanderfällt. Und tatsächlich scheine ich den Radius der Katastrophe verlassen zu haben - bis ich mit voller Geschwindigkeit in einen Krater krache.
Ich überlebe, weil die Maschine die Wucht komplett aufgenommen hat - dafür ist fast nichts mehr von ihr übrig. Und tatsächlich - auch wenn es völlig sinnlos ist - schnappe ich mir sofort das eingebaute Kranseil, um das Wrack eigenhändig aus dem Krater zu ziehen. Es kann nicht mehr weit sein, es darf nicht mehr weit sein.
Ja, ich weiß, ich müsste sie liegen lassen. Aber das werde ich nicht. Das bin ich ihr schuldig. Egal, wie weit es noch ist, ich werde sie bis dahin ziehen und dort reparieren. Ich lasse meinen Freund nicht im Stich. Es bläst ein starker Wind. Und ja, das ist kein Film, das ist ein Indie-Spiel.
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