von Michael Sonntag (Montag, 06.06.2022 - 13:00 Uhr)
Wenn uns die Marketingkampagne von Cyberpunk 2077 eines weismachen wollte, dann: Leute, am 10. Dezember 2020 erschien nicht nur das beste Videospiel aller Zeiten, alle anderen Studios konnten danach auch dichtmachen. Umso niederschmetternder war dann das Fiasko, als Cyberpunk 2077 wirklich erschien. Aber selbst wenn wir die miserable Performance mal ignorieren, greife ich dennoch lieber zu Deus Ex aus dem Jahr 2016. Es bietet zwar viel weniger, das aber deutlich fokussierter.
Einen Moment, warten wir kurz, bis die Türe zugefallen ist. So! Während der wütende und Cyberpunk 2077 über alles liebende Mob losgefahren ist, um seine Fackeln und Mistgabeln für mich zu holen, nutze ich die verbliebene Zeit, um meinen Standpunkt zu erklären. Ein Satz, der häufig in der Berichterstattung zu Cyberpunk 2077 gefallen ist, war „Es ist wie Deus Ex, nur größer“. Es enthält Roleplay, Open World, Shooter, Stealth, Crafting, Autos, Entscheidungen … und das verstehe ich nicht. Ist ein Spiel automatisch umso besser, je mehr es enthält? Wird das beste Spiel aller Zeiten demnach das Spiel sein, das kein einziges Feature mehr auslässt? Ist das wirklich die nächste Evolutionsstufe des "Alles braucht eine Open World"-Trends?
Ich bin ehrlich – auch ich habe gehofft, in Cyberpunk 2077 eine Alternative und gute Fortsetzung der eingeschlafenen Deus-Ex-Reihe zu finden, aber letztendlich liefert selbst Deus Ex: Mankind Divided – dieser belächelte, spielzeittechnisch überdimensionale DLC – das bessere Gesamtpaket ab. Cyberpunk 2077 scheitert für mich gerade darin, dass es in seinem Größenwahn dem Spieler zu viele Möglichkeiten bietet und dabei die bestmögliche Spielerfahrung unter dem ganzen Chaos begräbt. Grenzen müssen den Spaß nicht zwangsläufig eingrenzen, sondern können auch einen Fokus setzen. Oder anders gesagt: Ich muss mich entscheiden, was ich haben will. Alles auf einmal geht (noch?) nicht.
Gehen wir das an ein paar Aspekten beider Spiele durch: Wozu brauche ich beispielsweise eine Charaktergestaltung in Cyberpunk 2077, wenn ich im Grunde eigentlich nicht meine Geschichte mit grünen oder blonden Haaren erleben will, sondern nur eine spannende? In Deus Ex bin ich als Adam Jensen eine coole Mischung aus Sherlock Holmes und Batman, der aufgrund eines Unfalls alles verloren hat und in einen mächtigen Hightech-Agenten verwandelt werden musste. Seine Zerrissenheit ist jederzeit spürbar, die Geschichte dagegen endet leider zu früh. In Cyberpunk wäre ich am liebsten selbst Johnny Silverhand und nicht sein Sidekick von Protagonist, über den ich fast gar nichts weiß, egal welche der Vorgeschichten ich nehme. Die Story selbst, in die mein unbeschriebenes Blatt hineinstürzt, ist widerum großartig, wenn sie denn dann mal Zeit bekommt, erzählt zu werden.
Was bringt es mir in Cyberpunk 2077, wenn ich dutzende Gameplay-Stile leveln kann, aber die Kämpfe und Missionen nur selten signifikante Unterschiede liefern und meine eigenerdachte Rolle kaum berücksichtigen? Am Ende tritt immer dasselbe Ergebnis ein, wozu dann so viel Freiheit überhaupt besitzen? In Deus Ex erwarten mich genau zwei Spielstile: Das vordergründige Schleichen und das Schießen für den Notfall, die beide gut von der Hand gehen und genügend Variationen bieten. Aber der Fokus bleibt auf Stealth und bietet eine knackige Herausforderung. Nahkampf dagegen bleibt eine Seltenheit, und wenn es dazu kommt, wird er durch eine coole Zwischensequenz gelöst, während ich in Cyberpunk 2077 einen Energiebalken stumpf niederknüppeln muss.
Und als letztes: Will ich wirklich eine X Quadratkilometer umfassende Open World mit vielen Fahrtwegen erkunden, wenn die einzelne Seitengasse an Details etwas karg ausfällt? Das Leben, das mich aus den vielen Einblendungen und Anrufen anbrüllt, finde ich ironischerweise so niemals draußen vor. Das moderne Prag in Deus Ex fällt dagegen als Ort winzig aus, erzählt aber auf jedem Quadratmeter viel Geschichte und bietet zudem spannende Innenräume zum Erkunden. Die Nebenquests sind an einer Hand abzählbar, bieten jedoch interessante Situationen und Perspektiven auf die Welt von Deus Ex. Das ist es, was Deus Ex liefert. Etwas anderes kann es nicht und soll es auch nicht. Perfekt? Nein, aber fokussiert.
In seinen besten Momenten erdrückt mich Cyberpunk 2077 faszinierenderweise nicht, sondern tut genau das, was Deus Ex macht – sich auf eine Sache konzentrieren, eine Person, der wir beistehen, auf eine traumatische Nacht, die wir durchstehen müssen, und eine angespannte Szene, die jederzeit eskalieren kann. In diesen Momenten ist es tausend Mal besser als Deus Ex, bis wieder dutzende Szenen folgen, in denen dem Spieler mehr Freiheit als Spaß geschenkt wird.
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