Videospielkultur

Sind wir bereit für Purge-Spiele? Wir fragen einen Psychologen

von Michael Sonntag (Sonntag, 31.07.2022 - 13:00 Uhr)

The Purge ist eine Horrorfilm-Reihe, die große Beliebtheit genießt. Die Ausgangslage rund um den mörderischen Feiertag bietet zwar genug Stoff für ein Videospiel, aber bisher hat sich noch kein Entwickler an die heikle Materie herangetraut. Aber wären wir auch bereit für diesen Amoksimulator, und könnten wir auch eine Lehre daraus ziehen? Das haben wir einen Psychologen gefragt.

Fortnite, GTA Online, Dead by Daylight - auch wenn verschiedene Videospiele längst Parallelen zu The Purge aufweisen, bleibt das Prinzip der Gamingwelt fern. Wieso? (Bild: Rockstar Games)
Fortnite, GTA Online, Dead by Daylight - auch wenn verschiedene Videospiele längst Parallelen zu The Purge aufweisen, bleibt das Prinzip der Gamingwelt fern. Wieso? (Bild: Rockstar Games)

The Purge: Zu heikel für Entwickler und Gamer?

Im Jahr 2013 stellte der Horrorfilm The Purge: Die Säuberung ein dystopisches Szenario vor: In den USA wurde ein blutrünstiger Feiertag eingeführt, um die Kriminalitätsraten und Arbeitslosenzahlen zu senken. Allen Bürgern ist es an diesem Tag gestattet, für zwölf Stunden jegliche Verbrechen auszuüben, ohne dafür Sanktionen fürchten zu müssen. Die Handlung verfolgt das Einzelschicksal einer Familie, die sich in einem Haus verbarrikadiert und eine Person vor einer tobenden Meute rettet, die sich dann langsam einen Weg nach drinnen bahnt. Es folgten zwei weitere Filme und eine Serie.

Trotz des interessanten und satirischen Szenarios gibt es bis heute noch keine Videospielumsetzung zu The Purge, auch wenn das "Battle Royale"-Spiel Fortnite und der Gangster-Multiplayer GTA Online sehr ähnliche Gameplay-Konzepte verwenden. Mit der Aufteilung der Killer- und Überlebenden-Gruppe aus Dead by Daylight wäre der naheliegendste Aufbau eines The-Purge-Spiels schnell gefunden: Hierbei könnten die Spieler entweder den Feiertag ablehnen und sich in ihren Häusern vor den anderen Bürgern verschanzen oder aktiv an der „Säuberung“ teilnehmen.

Aber wäre das nur ein reiner Amoksimulator zur Unterhaltung oder vielleicht auch eine Simulation, aus der wir eine differenzierte gewaltkritsche Lektion mitnehmen könnten? Wir haben den Psychologen Dr. Benjamin Strobel gefragt, ob wir wirklich ein The-Purge-Videospiel brauchen und ob es in gewisser Weise auch eine Bereicherung für die Gamingwelt sein könnte.

The Purge: Reine Unterhaltung oder auch lehrreich?

  • Denkst du, dass ein solches Spiel ein reines Unterhaltungsprodukt wäre oder auch interessante Denkanreize schaffen und den Spielenden eine gewaltkritische Erfahrung bieten könnte?

Dr. Benjamin Strobel:Ich denke, digitale Spiele sind nie reine Unterhaltungsprodukte. In einem Werk drücken sich immer die Ideen, Werte und Haltungen ihrer Schöpfer'innen aus. Damit sind Games, wie andere Medien, auch immer ein Spiegel ihrer Gesellschaft und ihrer Zeit. Was für Werte und Haltungen ein Spiel rüberbringt, hängt natürlich vom konkreten Werk ab.

Bei The Purge kann man auf die Vorlage schauen: Was für ein Menschenbild steckt dahinter? Was für ein Glaube an unsere Gesellschaft wird kommuniziert? Wie vielen Geschichten, die von apokalyptischen Zuständen handeln, liegt auch The Purge die Annahme zugrunde, dass der Mensch aggressiv und selbstsüchtig ist. Da werden Geschichten von Verrat und Täuschung erzählt. Ein Überlebender, der an die Tür klopft und um Hilfe bittet, entpuppt sich als Feind und missbraucht das Vertrauen der Gutmütigen.

Das ist aber nicht nur Fiktion, sondern hat auch etwas mit dem Blick auf unsere Gesellschaft zu tun. Hinter diesem Beispiel steckt ein Narrativ, das man beispielsweise im Zusammenhang mit Geflüchteten in der echten Welt wiederfindet: Anstatt sie als Hilfsbedürftige anzusehen, gibt es Geschichten von marodierenden Horden, die als Gefahr oder als Schmarotzer dargestellt werden. Wie in The Purge wollen diese Menschen uns angeblich nur ausnehmen und sich Ressourcen erschleichen, so das menschenfeindliche Narrativ.

Es geht also nicht nur um die Frage, wie wir mit Gewalt umgehen, sondern auch welches Menschenbild wir haben und ob wir an unsere Gesellschaft glauben. Ein Stück weit ist The Purge die Geschichte eines Gesellschaftssystems, das gescheitert ist, weil es zu einer so drastischen Lösung greifen muss. Aber das ist nicht irgendeine Gesellschaft, sondern ein Spiegelbild unserer eigenen. Wenn wir The Purge für plausibel halten, sind wir womöglich auch bereit, unsere eigene Gesellschaft als scheiternd zu begreifen. Das kann Nährboden für demokratiefeindliches Gedankengut sein, wie wir es gerade bei Bewegungen wie den Querdenkern und ähnlichen beobachten können. Es hält uns vielleicht auch davon ab, konstruktive Lösungen zu suchen. Wie könnten wir Problemen von Kriminalität und Arbeitslosigkeit besser begegnen?

Das Purge-Konzept hat im Videospielbereich bisher nur in Mods für Spiele wie GTA Online Fuß gefasst, die aber strenggenommen nur Deathmatches mit Timer bei Nacht darstellen und das dazugehörige Gesellschaftsmodell nicht thematisieren. (Bildquelle: forum.cfx / auri45)
Das Purge-Konzept hat im Videospielbereich bisher nur in Mods für Spiele wie GTA Online Fuß gefasst, die aber strenggenommen nur Deathmatches mit Timer bei Nacht darstellen und das dazugehörige Gesellschaftsmodell nicht thematisieren. (Bildquelle: forum.cfx / auri45)
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The Purge: „Vermutlich keine gute Lehrstunde zu Gewalt“

  • Wie müsste das Purge-Spiel deiner Meinung nach für diesen lehrhaften Nutzen aufgebaut sein und welche medienpsychologischen Aspekte müssten dafür im Vordergrund stehen?

Dr. Benjamin Strobel:Die Besonderheit von digitalen Spielen ist, dass nicht nur die gezeigten Inhalte eine Wertehaltung kommunizieren, sondern dass auch Regeln und Spielsysteme Aussagen formulieren können. Der Spieleforscher Ian Bogost nennt das ’Prozedurale Rhetorik’. Bei einem Spiel zu The Purge wäre beispielsweise die Frage, welche Anreize das Spiel für die eine oder andere Entscheidung bietet.

Vielleicht hat man total große Handlungsfreiheit und Zugriff auf viele Waffen und Gegenstände, wenn man sich für ein aggressives Vorgehen entscheidet, während es langweilig ist, sich im Haus zu verstecken. Oder vielleicht ist es viel schwieriger, sich gut und sicher zu zu verteidigen und die meisten Spieler'innen sterben bei dem Versuch. Dann würde das Spiel durch seine Mechaniken kommunizieren, dass es unsicher ist und nichts bringt, sich von der Gewalt zu enthalten.

Aus psychologischer Sicht ist The Purge vermutlich keine gute Lehrstunde zum Thema Gewalt. Denn die Geschichte geht von einer längst widerlegten Vorstellung von Aggression aus, der so genannten Katharsishypothese. Dabei ging man davon aus, dass sich Aggressionen in uns Menschen aufbauen, zum Beispiel durch Frustrationen. Man glaubte aber auch, dass man Aggressionen reduzieren kann, indem man sie auslebt, so wie an the Purge an einem Tag im Jahr.

Die Idee ist, dass man sich so entladen hat und dann erstmal wieder ruhig und ausgeglichen ist, bis es Zeit für den nächsten Purge wird. Diese Vorstellung konnte von der empirischen Forschung aber nicht bestätigt werden. Im Gegenteil: Die Befunde weisen eher darauf hin, dass das wiederholte Ausleben von Aggressionen eher förderlich für mehr Gewalt sein kann.

Undertale und Spec Ops: The Line bewertet Dr. Strobel als zwei besonders lehrreiche Videospiele für Gewaltthematiken.
Undertale und Spec Ops: The Line bewertet Dr. Strobel als zwei besonders lehrreiche Videospiele für Gewaltthematiken.

Die beste Lektion: Eine Alternative zur Gewalt zu haben

  • Oder gäbe es hierfür andere Szenarien, die du für geeigneter hältst? Welche wären das?

Dr. Benjamin Strobel: „Bei dem Thema Gewalt ist immer interessant, welche Handlungsalternativen angeboten werden und wie gut sie sind. Das spielt zum Beispiel eine Rolle bei der Therapie von Gewaltproblematiken. Wenn meine einzigen Handlungsalternativen sind, eine Waffe zu benutzen oder sie nicht zu benutzen, ist das keine besonders reichhaltige Auswahl.

Vielleicht könnte es in einem Spiel gute diplomatische Lösungen geben, Handel oder eine Vielzahl von Handlungen, die anderen helfen und sie unterstützen, wie etwa medizinische Versorgung. Solche Alternativen könnten ein Spiel nicht nur in seiner prozeduralen Rhetorik diversifizieren, sondern auch interessante spielerische Anreize bieten, um auch mal den Unterhaltungsaspekt zu betonen, der für viele sicher im Vordergrund stehen würde.“

  • Könntest du uns gute Beispiele für Videospiele nennen, die eine Gewaltthematik differenziert und lehrreich behandeln?

Dr. Benjamin Strobel:Im Gesamtkontext kann ich beispielweise Spec Ops: The Line empfehlen, das im Spielverlauf Gewalt- und Kriegshandlungen in Frage stellt. Während wir zunächst auf alles schießen, wie es uns befohlen wurde, konfrontiert uns das Spiel später damit, dass wir vielleicht doch eine Wahl haben.

Hervorheben würde ich außerdem den Indie-Titel Undertale, der interessante, alternative Angebote zu einem gewaltsamen Vorgehen macht. Wenn man den Genre-Konventionen des Rollenspiels folgt, drischt man auf die Feinde zunächst ein, um an ihnen vorbei zu kommen. Mit der Zeit kann man allerdings lernen, dass man sie mit Geschicklichkeit auch überwinden kann, ohne ihnen Leid anzutun. Beide Spiele leisten dadurch auch einen Kommentar auf digitale Spiele im Allgemeinen: Sie zeigen, wie normal es in Games für uns ist, auf Probleme mit Gewalt zu reagieren.

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Auch wenn es noch kein The-Purge-Videospiel gibt, benötigt die Gamingwelt auch nicht zwangsläufig eines. Dass Videospiele nur dann wertvolle Lektionen über Gewalt vermitteln können, indem sie diese aktiv hinterfragen und auch Alternativen zu dieser anbieten, nehmen wir als wichtige Erkenntnis aus diesem Interview mit, für das wir uns recht herzlich bedanken.

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